Definieren und Visualisieren: Ein Offener Brief gegen sexuelle Belästigung in Hochschulkontexten

Dieser Blog schließt an den folgenden Brief gegen sexuelle Belästigung an Hochschulen an.

Im Rahmen dieser Homepage sollen Materialien zur Umsetzung von strukturellen Verbesserungen diesbezüglich geschaffen und zugänglich gemacht werden. Aktuell findet sich dazu bereits der Anhang des Briefes mit weiteren Ausführungen, sowie einzelne Leitfänden und ein Forum für anonyme Mitteillungen über Diskriminierungserfahrungen in universitären Kontexten.

Unterschreiben geht hier.

Liebe Studierende*, Lehrende*, Gleichstellungsbeauftragte*, Studierendenwerke und alle anderen Interessierten*

Gute Lehre und Forschung braucht Diversität – das wissen wir inzwischen. Auch wissen wir jedoch, dass Universitäten institutionelle Strukturen aufweisen, die dem im Weg stehen können. Eine solche institutionelle Problematik ist sexuelle Belästigung, die im Hochschulkontext, unter anderem durch die stark hierarchischen Strukturen, erheblich begünstigt wird. Diese Tatsache besteht auch trotz Gleichstellungsbüros und anderer Bemühungen seitens der Hochschulen.

In dem tiefen Anliegen, dem entgegenzuwirken, um eine wirklich diverse und offene Forschung und Lehre zu ermöglichen, wollen wir in diesem Brief einige Vorschläge herausstellen. Wir möchten vor allem a) ein dauerhaftes Gespräch über den Begriff der sexuellen Belästigung auslösen, b) ambitionierte Visionen für Prävention und Thematisierung von sexueller Belästigung an Hochschulen entwickeln und c) leicht umsetzbare Ansätze und Maßnahmen anbieten, sodass erste Verbesserungen nicht lange auf sich warten lassen müssen. Bei all dem fokussieren wir vor allem Prävention. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf §12 des AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), der alle Hochschulen gesetzlich zur Prävention verpflichtet. Dieser Verpflichtung wird allzu oft nicht hinreichend nachgekommen, was bereits an der seltenen Thematisierung der Problematik durch Hochschulen erkennbar ist. Wir ermahnen dazu, diese Verpflichtung zu erfüllen und schlagen konkrete Möglichkeiten vor, dies besser zu tun. Dabei sind unserer Ansicht nach Sensibilisierung und Sichtbarkeit der Problematik[1] besonders zu fokussieren.

Dieses Schreiben ist darauf ausgelegt für Universitäten mit verschiedensten Wissens- und Entwicklungsständen bzgl. der Problematik hilfreich zu sein. Wir erbitten Unterschriften zur freiwilligen Selbstverpflichtung, sowie zur allgemeinen Unterstützung. Wir erhoffen uns außerdem Studierendenvertretungen konkrete Vorschläge an die Hand zu geben, für deren Umsetzung sie sich vor Ort einsetzen können.

Unsere Vorschläge bieten die Möglichkeit, die Präventionsarbeit bzgl. sexueller Belästigung zu einem besonderen Qualitätskriterium einzelner Hochschulen werden zu lassen. Das ist einerseits ein attraktives Alleinstellungsmerkmal und andererseits ein wesentlicher Beitrag zu einem diversen, inklusiven Hochschulleben insgesamt.

Vor den konkreten Maßnahmen steht allerdings eine begriffliche Frage: Wir wollen die Bedeutung einer Definition zur Verwendung des Begriffs der sexuellen Belästigung stark machen, denn nur vor dem Hintergrund einer solchen Definition können Maßnahmen effektiv werden.

Den Begriff der sexuellen Belästigung umranken Narrative und Assoziationen, die Menschen* in einem binären Begriff von Geschlecht verstehen und dabei den Mann als Täter herausstellen. Zudem verleiten konventionelle Redeweisen zu stigmatisierenden Annahmen, wie Täter-Opfer-Umkehrungen oder der Annahme sexuelle Belästigung sei eine reine „Meinungs- oder Gefühlsfrage“. Diese destruktiven Muster, die meist unmittelbar und unbeabsichtigt an den Begriff selbst anschließen, prägen einerseits das persönliche und alltägliche Verständnis von sexueller Belästigung und andererseits auch das institutionelle. Wir möchten an dieser Stelle auf die Gefahr solcher unbeabsichtigter Stigmatisierung hinweisen und bitten darum, dass sie in dem Umgang mit der Begrifflichkeit grundsätzlich mitgedacht werden. Sonst passiert es im schlimmsten Fall, dass gut gemeinte Präventionsangebote, wie Broschüren oder Papers zu ausgewerteten Umfragen Stigmatisierungen reproduzieren. Das ist bereits passiert und muss in Zukunft dringend vermieden werden.

Definitorisch regen wir die folgende Grundlage an und fordern zu einer solchen Definition im Rahmen der Homepages von Gleichstellungsbüros auf:

Sexuelle Belästigung besteht in der (verbalen oder non-verbalen) Einschränkung eines Menschen*, frei über alle Aspekte seiner Sexualität zu verfügen. Das ist bereits bei einer uneinvernehmlichen Sexualisierung (bspw. eines Körpers oder einer Situation) der Fall. Für Einvernehmlichkeit wird der Ja-heißt-Ja-Grundsatz zugrunde gelegt, demzufolge sie nur dann der Fall ist, wenn ein ausdrückliches Einverständnis des Gegenübers* vorliegt.

Hier sei angemerkt, dass sexuelle Belästigung nicht nur als Spielart des Sexismus, sondern auch als spezifische ableistische[2] oder rassistische Diskriminierung auftreten kann. Außerdem möchten wir auf die Betroffenheit[3] von inter- und transgeschlechtlichen, sowie nicht-binären Personen* gesondert hinweisen, da sie in binär gedachten Begriffen der sexuellen Belästigung völlig unsichtbar bleibt. Darüber hinaus sei auf die Betroffenheit männlich gelesener Personen* von Belästigung und Gewalt hingewiesen, die besonders wenig erforscht ist und oft nicht einmal als Belästigung oder Gewalt Anerkennung findet. Insgesamt sollten Definitionen von sexueller Belästigung besonders für subtile Formen der Belästigung sensibilisieren, sodass das Problem nicht erst bei körperlichen Übergriffen in Erscheinung tritt. Für die Sensibilisierung bzgl. dieser subtilen Formen bietet sich unter anderem der Begriff der Sexualisierung an.

Besonders wichtig ist uns außerdem der Ja-heißt-Ja-Grundsatz, durch den es erst möglich wird anzuerkennen, dass Belästigung und Gewalt auch ausgeübt werden können, ohne dass die Absicht vorliegt, das zu tun. Das ist besonders wichtig zu verstehen, um wirklich gegen das Problem vorgehen zu können!

Diese Definition sollte die Grundlage für ein eindeutiges und verbindliches Bekenntnis der Hochschulen zu einer „Null-Toleranz“-Politik, bezüglich sexueller Belästigung, darstellen. Diese beinhaltet vor allem, dass Universitäten anerkennen, dass Personen*, die wegen sexueller Belästigung verurteilt sind, keine geeigneten Lehrenden* oder Forschenden* sind und folglich nicht in universitären Strukturen tätig bleiben und von ihnen geschützt werden sollten.

Unsere Anregungen zu konkreten Maßnahmen lassen sich wie folgt unterteilen:

  1. Veranstaltungen für Lehrende* und Studierende*, die informieren und sensibilisieren. Sie bieten eine Chance für Universitäten und Einzelpersonen*, die eigenen Grenzen und Verhaltensweisen, sowie die problematischen Aspekte der institutionellen Strukturen, in denen sich bewegt wird, zu reflektieren.
  • Transparente Verfahren – Dieser Punkt verlangt drei Unterpunkte:
  • Es braucht Richtlinien zu sexueller Belästigung, die die Problematik, sowie konkrete Umgangsweisen mit ihr (Verfahren und Prävention) definieren.
  • Diese Verfahren sollten dann leicht verständlich und so detailliert wie möglich auf den Seiten der Gleichstellungsbüros geschildert werden. Betroffene müssen sich leicht darüber informieren können, was ihnen zusteht und worin ihre Möglichkeiten bestehen.
  • Die Aufklärung einzelner Fälle sollte nicht durch eine Einzelperson, sondern durch eine Kommission stattfinden.
  • Ermöglichung von anonymer Mitteilung in Online-Plattformen und anonymen Beratungs- und Therapiegesprächen.
  • Sichtbarkeit der Problematik und ihre Dokumentation: Wir fordern semesterweise Erhebung von Daten an jeder Universität, sowie die zugängliche Veröffentlichung der aktuellsten deutschlandweiten Statistiken zu sexuellen Übergriffen in universitären Kontexten. Langfristig sollte hier auf regelmäßige (freiwillige) Onlinebefragungen aller (wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen) Universitätsangehörigen* hingearbeitet werden.
  • Kooperation mit externen Anlaufstellen für sexuelle Gewalt.
  • Leitfäden[4] zu sexueller Belästigung für Beobachtende*, Betroffene* und Täter*innen, die Erkennbarkeit und Reaktionsvermögen fördern.
  • Einrichtung gesonderter Stellen und die Verstetigung derer, die bereits existieren.
  • Sensible und angemessene Redeweise bezüglich Vorkommnissen sexueller Belästigung oder Gewalt.
  • Jedes Semester das Angebot von mindestens einem gemischten und mindestens einem nur für FLINT-Personen (FLINT: Frauen, Lesben, Inter-, nicht-binäre und Transpersonen*) angebotenen Selbstverteidigungs-/Selbstbehauptungskurs.

Besonders wichtig ist uns, das Folgende deutlich zu machen: Es sagt nichts Schlechtes über eine Universität aus, wenn sie das Vorkommen von sexueller Belästigung in ihren Kontexten eingesteht. Das ist aktuell ohnehin der Zustand an jeder Universität, was mit begünstigenden Strukturen[5] zusammenhängt, die alle Universitäten teilen. Wo sich diesbezüglich die Qualität einer Universität bestimmt, ist in dem Umgang mit diesen Vorkommnissen. Die Prägung und gegebenenfalls Traumatisierung durch jedwede Form von sexuellen oder sexualisierten Übergriffen ist die eine Seite. Die andere ist der Umgang des eigenen Umfeldes mit dem Erlebten: Hier kann eine wesentliche Restabilisierung und Verarbeitung oder aber eine weitere Traumatisierung stattfinden. Wir sind überzeugt, dass es im Sinne jeder Universität ist, für Ersteres zu sorgen und wissen dennoch aus persönlichsten Erfahrungen, dass das nicht immer der Fall ist.

Dieser Brief bietet vielfältige, ganz konkrete Verbesserungsmaßnahmen an: Unser Anliegen besteht darin, ein möglichst konkretes Bild diesbezüglicher Verbesserung zu schaffen und zu dessen Umsetzung in die Realität zu ermutigen!

Damit eben diese Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen, sowie der langfristige Prozess der Sensibilisierung und Umstrukturierung im Generellen möglich ist, müssen vor allem den Gleichstellungsbüros deutlich mehr finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Wir bitten daher alle möglichen Stellen, die zu gleichberechtigten Hochschulkontexten beitragen wollen, diesen Brief zum Anlass zu nehmen, sich mit eben diesem Anliegen verstärkt an Hochschulleitungen zu wenden. Lasst uns gemeinsam den nötigen und angebrachten Druck ausüben, um diesbezüglich Veränderung zu schaffen.

Wir erhoffen uns, dass erkannt wird, dass die Verbesserung der Möglichkeiten, sexueller Belästigung in Hochschulkontexten zu begegnen, auch für eine gute Forschung essentiell ist und die hier geforderten Maßnahmen daher auch einen wesentlichen wissenschaftlichen Beitrag darstellen. Jeder Mehraufwand, der in die Verbesserung der diesbezüglichen Strukturen investiert wird, ist also gut investiert (und eben auch in gute Forschung investiert).

Wir wünschen uns einen Diskurs über diese Problematik und vor allem natürlich: Unterschriften. Wir bitten um die freiwillige Selbstverpflichtung von Gleichstellungsbüros, Hochschulleitungen, Studierendenwerken, Studierendenräten und Einzelpersonen*, die hier dargelegten Möglichkeiten wahrzunehmen und Realität werden zu lassen: Beginnend bei den simplen, sofort umsetzbaren Schritten, sich zu den großen bewegend. Ziel ist es dafür zunächst eine möglichst große Präsenz der Thematik zu schaffen.

Für die Umsetzung haben wir die Vision, dass dieser Brief an verschiedenen Universitäten und ihren Umfeldern Anstoß für die jeweils eigenen Verwirklichungen gibt, indem sich vor Ort Stellen verantwortlich fühlen für die Umsetzung der passenden Ideen aus diesem Brief zu sorgen.

Grundsätzlich wollen wir Mut machen, aber eben auch Verbindlichkeit schaffen – Helfen Sie uns dabei, denn gemeinsam können wir viel bewegen!

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


[1] Die Erweiterung von Sanktions- und Verfahrensmöglichkeiten, im Falle von sexueller Belästigung, ist dabei allerdings ebenfalls nicht zu unterschätzen – auch im Rahmen von Prävention, da nur ein sichtlich funktionales System eine „Null-Toleranz“-Politik glaubhaft vermitteln und Vertrauen in die Universität als Institution schaffen kann. Empfehlungen an Universitäten hierzu finden sich bspw. in der Expertise der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu Sexueller Belästigung im Hochschulkontext, aber auch in diesem Brief.

[2] Personen*, die als behindert gelesen werden sind von allen Hochschulangehörigen* am stärksten von verschiedenen Gewaltformen betroffen (vgl. List und Feltes 2015, S. 122).

[3] Diese Betroffenheit von sexueller Belästigung muss Sichtbarkeit erlangen, ist jedoch nur ein Anfang bzgl. der Gleichberechtigung von trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen*. Sie erleben eine große Bandbreite spezifischer Diskriminierungserfahrungen, die aufgezeigt werden müssen, sodass sie sichtbar und damit bekämpfbar werden. Das ist eine wichtige Aufgabe, auch von Hochschulen, die über diesen Brief hinausweist, auf die wir aber hiermit zumindest verweisen wollen.

[4] An dieser Stelle der Hinweis, dass Leitfäden hier etwas wesentlich anderes als Richtlinien sind: Letztere bieten eine Grundlage für den spezifischen Hochschulkontext sexuelle Belästigung zu definieren und Verfahren und Präventionsmaßnahmen zu entwickeln und festzuhalten. Die Leitfäden, die uns vorschweben bieten niedrigschwellige, persönliche Erklärungen und Informationen zur eigenen Einordnung und Reflexion an und streben eine ermutigende, ermächtigende und aufklärende Wirkung an.

[5] Diese begünstigenden Strukturen liegen vor allem in der stark hierarchischen Struktur, die Machtgefälle und damit beispielsweise Gedanken wie die folgenden provoziert: “Beschwere ich mich jetzt wirklich über einen meiner Lehrenden*, der über meine Noten entscheidet, wenn ich diese Leistungspunkte unbedingt brauche, um studieren zu können?” Und solche Gedanken sind nicht weit entfernt von Selbstbezichtigung und Relativierung dessen, was einem widerfahren ist.

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